Gerechtes Handeln im Kleinen verhindert Fluchtursachen in der Welt

Schockierender Blick hinter Kulissen der glitzernden Modewelt im Kino-Center Nastätten – Konstruktive Podiumsdiskussion

Nastätten/Rhein-Lahn. (6. November 2020) Corona und die Folgen bestimmen verständlicherweise die Schlagzeilen. Das Elend in griechischen Flüchtlingsunterkünften, mit dem sich unter anderem die abgesagte Synode des Dekanats Nassauer Land beschäftigen wollte, gerät dabei ebenso aus der öffentlichen Wahrnehmung wie andere Fragen, die mehr globale Gerechtigkeit in den Blick nehmen, um Fluchtursachen zu bekämpfen. Dabei könnten viele kleine Schritte dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Das zeigte etwa – noch vor dem neuerlichen Lockdown – ein Filmabend in Nastätten, wo sich zahlreiche Personen aus den Kirchengemeinden Denkanstöße zum eigenen nachhaltigen Handeln und Einkaufsverhalten holten.  

Der Abspann läuft und im Kino-Center Nastätten herrscht absolute Ruhe. Der Film „The True cost – Der Preis der Mode“ macht die 80 Zuschauer, die unter Corona-Bedingungen noch vor dem November-Lockdown in den Saal passen, betroffen. Er offenbart die Ausbeutung von Mensch und Natur hinter der glitzernden Modewelt. Der Abend endet nicht in Schockstarre. Eine Diskussion mit lokalen Protagonisten und Innenminister Roger Lewentz, der auch die Entwicklungszusammenarbeit des Landes verantwortet, motiviert zum nachhaltigen Gegensteuern und -handeln in kleinen Schritten, die aus der Kommune in die Welt ausstrahlt.

Die 2015 produzierte Dokumentation, für den Ralf Holl sein Kino zur Verfügung stellt, ist nichts für schwache Nerven. Hier Menschen, die wie von Sinnen Bekleidungsmärkte stürmen, auf der anderen Seite Kinder und Erwachsene, die in ärmlichsten Verhältnissen leben, todkrank sind oder sterben, um den Konsumenten ihr modisches Vergnügen zu billigsten Preisen zu ermöglichen. Arbeitsplätze, die das Leben kosten, seien inakzeptabel, heißt es am Ende des Streifens; Land, auf dem Rohstoffe angepflanzt werden, dürfe nicht als Ware angesehen werden, „sondern als Lebensgrundlage von uns allen“.

Den Gedanken der Einen Welt stellt Roger Lewentz zu Beginn der von Achim Trautmann vom BUND-Büro in Koblenz moderierten Diskussion in den Focus. Die bundesweit einzigartige Entwicklungszusammenarbeit des Landes und die 1982 begonnene auf bürgerschaftlichem Engagement basierende „Graswurzelpartnerschaft“ mit Ruanda leistet Hilfe zur Selbsthilfe. Mit Steuermitteln und Spendenaktionen von Kommunen, Vereinen, Kirchen, Schulen und anderen Initiativen wurden mehr als 2000 Projekte finanziert. Ein Schwerpunkt sind Schulprojekte basierend auf der Überzeugung: „Wir können Zukunft über Bildung erreichen“, sagt Lewentz und weist auf einen zum Film passenden Baustein zur Förderung nachhaltigen Wirtschaftens hin: Die Regierung akzeptiere den Import gebrauchter Kleidung nicht mehr. „Nur so können in Ruanda Wertschöpfungsketten aktiviert und die eigene Produktion ermöglicht werden.“ Eine Voraussetzung, Fluchtursachen in Afrika zu bekämpfen. „Wenn man die Armut sieht, fängt man an zu verstehen, warum Menschen sagen: Ich mache mich auf den Weg“, berichtet er aus Reisen nach Mali und Niger. Gleichzeitig wirbt er für den Einkauf vor Ort.

Froh könne jeder sein, der nicht in solchen Verhältnissen lebt, kommentiert Verbandsgemeinde-Bürgermeister Jens Güllering den Film, der schockiere. „Und ich schäme mich dafür, dass wir ein Teil des Problems sind! Das sollten wir uns bewusst machen.“ Auch wenn die Aufgaben einer VG klar umschrieben sind: „Den Blick in die Welt zu weiten, steht uns gut zu Gesicht“. So hätten die von Erwin Damrau und Karl Peter Bruch initiierten Partnerschaftsprojekte, die seit 2018 wieder aufleben, sowohl ein nachhaltiges Bewusstsein diesseits des Mittelmeers als auch hilfreiche Spendenprojekte jenseits ermöglicht wie die Schülerfirma der IGS oder Hilfen für Schulen. „Jetzt sind wir ins Thema Verwaltungsarbeit eingestiegen“, berichtet er von motivierten VG-Mitarbeitenden, die sich gern darüber, auch im Bereich der Abwasserbeseitigung, mit den Menschen in Ruanda austauschen würden. Und er erinnert an viele nachhaltige Innovationen in der Verbandsgemeinde wie in der Energieversorgung und E-Mobilität.

„Wir müssen auch Forderungen stellen, gerade was die Transparenz des Lieferketten-Managements anbelangt“, sagt Anke Bodenbach vom Eine-Welt-Laden in Nastätten, wo mit einem engagierten Team seit mehr als 30 Jahren „Produkte mit Respekt verkauft“ werden. Sie spricht das Labyrinth an Siegeln an, die vermeintlich Nachhaltigkeit garantieren und unter denen sich doch Schummel-Etikette befinden, wenn es um Fragen des Baumwollanbaus und dessen menschenwürdige Verarbeitung geht. Sowohl die ökologische als auch die soziale Nachhaltigkeit seien erkenn- und überprüfbar auszuweisen. An einem Info-Tisch ist eine aufklärende Broschüre später schnell vergriffen. Toll findet sie die Präsenz von Schülern der IGS Nastätten. „Das ist für euch und eure Zukunft wichtig.“ Ihre Hoffnung: dass der Gedanke „fair statt mehr“ in der Gesellschaft Schule macht.

Weil sie vor fünf Jahren genug davon hatte, sich von milliardenschwerer Werbung der Modeindustrie vorschreiben zu lassen, was sie zu tragen hat, gründete Judith Drewke aus Mainz ihr eigenes Label „Fraigaist“, kauft nur noch Second-Hand ein und berät den Einzelhandel in einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten zukunftsfähigen Zusammenarbeit. Sie ermuntert zum wohnortnahen Einkauf, aber es brauche eines Konzeptes und einer Förderung für nachhaltige Gründungen im Einzelhandel. „Die Innenstädte hätten sich eh geändert auch ohne Corona, das beschleunigt die Entwicklung nur“. Kinobesitzer Ralf Holl findet Netzwerke wichtig, um beispielsweise Drewkes Mainzer Erfahrungen im kleineren Maßstab in Nastättens Eine-Welt-Laden umzusetzen: „Wie wäre es mit einer Fraigaist-Filiale in Nastätten?“.

„Wir haben die Macht, im Eine-Welt-Laden einzukaufen oder unsere Zeit dort ehrenamtlich einzusetzen“, heißt es aus dem Publikum. Mehr Mut wird von der Politik gefordert, sich öfter über den Willen von Lobbyisten hinwegzusetzen und nicht immer auf „Freiwilligkeit“ zu vertrauen, um mehr Nachhaltigkeit in der Produktion zu gewährleisten. Hoffnung setzt das ganze Podium in das von Arbeitsminister Hubertus Heil und Entwicklungsminister Gerd Müller geplante Gesetz, dass größere deutsche Unternehmen verpflichten soll, Menschenrechte und soziale Mindeststandards ihrer Lieferketten sicher zu stellen und die Verantwortung dafür nicht aufs produzierende Ausland zu verlagern. Dass Veränderung möglich ist, beschreibt eine 75-jährige Besucherin: „Mit 25 sind wir nach Frankfurt gefahren, um dort Bio-Produkte zu kaufen. Heute hat fast jeder Discounter in der Region solch eine Ecke“.

Aus vielen kleinen Schritten könne eine große Bewegung werden, wenn etwa alle Bundesländer dem Beispiel von Rheinland-Pfalz mit seiner Partnerschaft folgten, meint Minister Lewentz; noch besser, wenn auch auf europäischer Ebene der Eine-Welt-Gedanke Politik bestimmt. „Wenn man einen Stein ins Wasser wirft, ist der erste Kreis auch noch klein“, so Lewentz. Der Abend macht deutlich: in Nastätten sind bereits mehr Kreise in Bewegung. Bernd-Christoph Matern

Informationen zu einem nachhaltigen Verhalten evangelischer Kirchengemeinden im Dekanat Nassauer Land gibt das Pfarramt für Gesellschaftliche Verantwortung.

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Boten eine konstruktive Diskussion für soziale und ökologische Nachhaltigkeit im weltweiten Wirtschaften (von rechts): Roger Lewentz, Ralf Holl, Judith Drewke, Anke Bodenbach, Jens Güllering und Achim Trautmann. Fotos: Bernd-Christoph Matern

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