RHEIN-LAHN/BORNICH. Der evangelische Kindergarten Bornich feiert an diesem Wochenende sein 100-jähriges Bestehen. Für die Verantwortlichen ein Grund, nicht etwa zurück, sondern nach vorn zu schauen. „Welche Zukunft geben wir unseren Kindern heute?“, war eine Podiumsdiskussion mit Vertretern aus Politik und Kirche überschrieben, in der auch immer wieder emotional Argumente ausgetauscht wurden. Eine Zunahme armer und verwahrloster Kinder im Rhein-Lahn-Kreis sowie der Ausbau von Krippenplätzen standen im Mittelpunkt einer Podiumsdiskussion, zu der Gemeindepfarrer Manfred Löhde kompetente Gesprächsgäste im Sport- und Gemeindezentrum in Bornich begrüßte.
Dass die Familie prägende Gemeinschaft, Heimat für Kinder und Erwachsene sei, die Selbstvertrauen und Beziehungsfähigkeit vermittele, wie Moderator Pfarrer Wilhelm Wegner (Diakonisches Werk in Hessen und Nassau) aus einem Papier der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) eingangs zitierte, sei leider nicht überall der Fall, so Landtagsabgeordneter David Langner (SPD).
„Vielen Familien muss von außen geholfen werden, damit Kinder zu ihrem Recht kommen.“ Jedes 8. Kind im Land sei auf Hartz IV-Unterstützung angewiesen. Lösungen, wie Finanzhilfen für die Eltern, erreichten nicht immer die Kinder. Eine Lösung: die Beitragsbefreiung für die Kindergärten ab 2010, bei der politisch an einem Strang gezogen worden sei.
Bürgermeister Dieter Clasen (Verbandsgemeinde Loreley) sah die Kindertagesstätten weniger aufgrund finanzieller Armut, sondern vor allem auch aufgrund sozialer Armut herausgefordert, wenn sich Familien schon im Kindergarten ausgegrenzt vorkämen. Gerade um die Finanzen gehe es, meinte dagegen Christiane Giersen, Fachreferentin für Kinder, Jugend und Familie der drei Diakonischen Werke in Rheinland-Pfalz. „Dass es auch in Deutschland Kinder gibt, die ohne Essen in Kindergarten und Schule gehen und Hunger haben, ist ein Skandal.“
Landrat Günter Kern lieferte Zahlen, dass die heile Welt im Rhein-Lahn-Kreis bröckelt. So wurden innerhalb eines Vierteljahres zehn Kinder zwangsweise in ein Heim eingewiesen, drei wegen sexueller Übergriffe Erziehungsberechtigter, drei wegen Drogenmissbrauchs und vier wegen sozialer Vernachlässigung. Auch wenn er seine Kinder unter drei Jahren nie in eine Krippe geschickt hätte, so gebe es doch vielfältige Gründe dies zu tun; oft sei es der Zwang, den Arbeitsplatz nach einer zu langen Erziehungspause nicht verlieren zu wollen.
Xenia Roth, Leiterin des Referates Kindertagesstätten im rheinland-pfälzischen Ministerium für Bildung, Frauen und Jugend, sprach sich gegen eine Stigmatisierung von Eltern aus, die ihre Kinder in eine Krippe schicken. „Ich wehre mich dagegen, dass eine Familie nicht intakt sein soll, die eine Krippe nutzt.“ Auch in einer Krippe werde das Urvertrauen für ein Kind gelegt, antwortete sie Dieter Zorbach (Bornich). Der hatte die Bedeutung einer festen Bezugsperson in den ersten Lebensjahren unterstrichen, bevor sich ein Kind in einer Gruppe behaupten kann und angeregt, dass Eltern die mit ihren Kindern verbrachte Zeit als das Leben ebenso bereichernd ansehen könnten wie den Urlaub auf Mallorca.
Unterschiedliche Lebensentwürfe müssten akzeptiert werden, so Roth. Gerade im zweiten Lebensjahr würden in einer Krippe sprachliche und soziale Grundlagen im Miteinander fürs ganze weitere Leben erlernt, wie sie manches Einzelkind nicht erfahre, verteidigte Roth den zunehmenden Ausbau von Krippenplätzen in Rheinland-Pfalz, der auch im Rhein-Lahn-Kreis mit großen Schritten vorankommt. Bereits für 40 Prozent der Zweijährigen wird ein Krippenplatz angeboten. Eine ideologische Diskussion helfe nicht weiter, so Roth. „Eltern müssen – egal welchen Lebensentwurf sie haben – wissen, dass ihre Kinder professionell und mit entsprechender Qualität in den Einrichtungen aufgenommen sind.“
Dass die zunehmenden Anforderungen an Erzieher – Verwaltung, Fortbildung, Essen zubereiten, Wickeln, mehr schwierige Kinder – der Hinwendung zu den Kindern Zeit raube, wurde aus dem Publikum bemerkt. „Ideen und Konzepte, die vom Land kommen, sind wirklich super, aber keiner sagt, wie das alles geleistet werden soll“, so eine Erzieherin.
Landtagsabgeordneter Matthias Lammert (CDU), der sich für eine stärkere Anerkennung von Eltern aussprach, die ihr Kind zuhause betreuen, forderte, angesichts der hohen Qualitätsanforderungen auch über eine bessere Bezahlung von Erziehern nachzudenken, gerade im Vergleich zum Schulbereich. „Wer mehr Qualität will, muss das Mehr an Leistung auch höher honorieren“, so Lammert.
„Ich erwarte freudig einen entsprechenden Antrag ihrer Fraktion bei den nächsten Haushaltsberatungen“, konterte Landtagskollege David Langner (SPD). Mit Lammert einig war er sich, dass mit der Beitragsbefreiung ab 2010 an finanzieller Anstrengung bereits viel geleistet wurde. Vor „hehren Worten“ warnte Landrat Kern. Vom Bund könne vollmundig der Ausbau der Krippenplätze verlangt werden. „Dann aber bitte nicht das Herumgeeiere, wenn es um die Bezahlung geht, das kann die Kommune nicht allein leisten.“ Und wer über eine Erhöhung des Betreuungsschlüssels rede, spreche auch über mehr Geld. Außerdem sprach sich Kern für ein besseres Netzwerk unter Kindergarten, Schule und Jugendhilfe aus. „Zuerst haben wir erfolgreich gegen die Schulen gekämpft, die sich auf den Datenschutz beriefen, jetzt schieben die kirchlichen Träger den Datenschutz vor, wenn es um den Austausch geht.“
Angesichts der Scheidungszahlen sah Christiane Giersen keinen Sinn darin, einer heilen Welt nachzutrauen, vielmehr brauche es einer Flexibilisierung im Kindergarten. Sie bemängelte, dass in Deutschland immer nur aus Sicht der Eltern über Kindergartenpolitik gesprochen werde. „Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist mir als Argument zu wenig. Wir müssten doch vielmehr fragen: Was brauchen die Kinder, damit es ihnen gut geht?“ (bcm)
