Respektvolles Streiten statt populistisch spalten

Faire Debatten über Klimakleber, Fortschritt, Pazifismus und Waffenlieferungen prägen politische Foren

 NÜRNBERG/RHEIN-LAHN. (16. Juni 2023) Ein getaufter und konfirmierter Bundeskanzler, der kein Kirchenmitglied ist, sich aber bewusst nicht als Atheist bezeichnen lassen will, eine Außenministerin, die zwar nicht an Gott glaubt, aber trotzdem Mitglied der evangelischen Kirche ist und die von einem Alt-Bundespräsidenten contra fürs Gendern und feministische Wortklauberei bekommt, obwohl sich beide ziemlich nah im Denken fühlen – das waren Bekenntnisse, die der 38. Deutsche Evangelische Kirchentag in Nürnberg zu Tage förderte, ohne dass sie Schlagzeilen erzeugten.

In den von Algorithmen und Klischees gesteuerten Gesellschaftsdebatten vertragen sich solche Allianzen unterschiedlicher Absender nicht. Der Kirchentag zeigt: Es geht trotzdem. Und die Teilnehmenden aus dem Nassauer Land beeindruckt der faire Austausch. Sinn stiftende Gedanken zum Umsetzen passen zudem selten oder nie in einfache Schlagzeilen. Die Podien mit großen Entscheidern der Politik liefern tiefere Erkenntnisse als Talkshows.

Auf den Punkt bringt es Wirtschaftsminister Robert Habeck. Er erklärt, dass man gegen die alltägliche Hysterie an Schwarz-Weiß-Malerei und Apokalypsen und dem daraus resultierenden Populismus nie eine Chance haben wird. „Wer hat’s verbockt?“ ist das Podium mit ihm überschrieben. „Es geht nicht darum, mit den Fingern auf andere zu zeigen, sondern Wege des Miteinanders zum Machen zu finden“, so der Grünen-Politiker.

Im Gespräch unter anderem mit Klimaaktivistin Carla Hinrichs und dem ehemaligen Siemens-Vorstand Joe Kaeser gibt er zu Protokoll, dass Klimakleber dem Klimaschutz einen Bärendienst erweisen und eine Mehrheit für ihn verhindern. Pragmatisch seine Warnung, diesem alles unterzuordnen: „Ohne Kirchentag ließe sich eine Menge Kohlendioxid einsparen“, so der Politiker und legt nach: „Hätte ich keine vier Söhne haben sollen, weil dann der CO-2-Ausstoß reduziert wäre?“, fragt Habeck und stellt fest: „Das ist hoffnungslos“.

Die großen Podien mit namhaften Politikern sind ein Beispiel dafür, was die Gesellschaft am meisten braucht: eine Streitkultur, die den anderen ausreden lässt, selbst wenn das Gegenüber einer Gruppe oder Partei angehört, die vermeintlich ganz konträre Positionen vertritt. Natürlich gibt es auch unter den Kirchentags-Besuchern Schreihälse, die Lautstärke als adäquates Diskussions-Argument einsetzen, die eigene Meinung als die bessere verbreiten zu wollen. In Nürnberg sind sie in der absoluten Minderheit. „Heuchler, Heuchler!“, brüllt einer von ihnen bei der Begrüßungsansprache von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, als der die – auch militärische – Unterstützung Deutschlands für die von Russland angegriffene Ukraine zu erklären versucht inklusive der Aufnahme von einer Million Menschen, die vor dem Krieg nach Deutschland geflohen sind. Ein anderer versucht sich beim Habeck-Forum und bekommt Kontra von den anderen 8000 Forums-Teilnehmenden, die das Geschrei mit Applaus übertönen.

In seiner Debattenkultur ist dieser Kirchentag ein Vorbild, gesellschaftliche Gräben im großen Berlin wie im Nassauer Land zu überwinden: Schuldfrage und Meckern lösen Probleme bei Klima- wie Kriegsfolgen nicht, spalten allenfalls. Nur im respektvollen miteinander Ringen ums richtige Machen können Lösungen gefunden werden, damit die Hoffnung nicht das letzte ist, das stirbt. Bernd-Christoph Matern

Zu den Fotos:

Prominente Politiker nicht nur zum Anschauen – sie trugen auch in kontroversen Debatten zur Erweiterung des eigenen politischen Horizonts bei. Fotos/Grafiken: Matern

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